In Handschellen und mit Blaulicht in die Psychiatrie
60.000 Menschen werden gegen ihren Willen in psychiatrische Kliniken eingewiesen
© dpa
Diese Nacht wird Horst B. nie vergessen. Nach jahrelangem beruflichen Stress
erlitt der Ingenieur einen Nervenzusammenbruch mit Wahnvorstellungen. In Todesangst
verbarrikadierte er sich in seiner Wohnung und drohte damit, sich und seiner
Familie etwas anzutun. Einen psychiatrischen Notarzt, der ihn hätte beruhigen
können, gab es nicht. Horst B. wurde von überforderten Polizisten
überwältigt. In Handschellen und mit Blaulicht brachten sie ihn in
die Psychiatrie.
Wie Horst B. werden Untersuchungen zufolge jährlich rund 60.000 Menschen
gegen ihren Willen in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Häufig werden
sie hier als erstes mit Medikamenten ruhig gestellt. "Wer sich ohnehin
verfolgt fühlt, glaubt, dass die Beruhigungsspritze, die ihm der Arzt in
der Klinik setzen will, die Todesspritze für seine Hinrichtung ist",
sagt Diplom-Psychologe Stefan Gunkel von der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie Langenhagen.
Der Direktor der Niedersächsischen Landeskrankenhaus Wunstorf bei Hannover,
Andreas Spengler, befasst sich schon seit 1977 mit Zwangsmaßnahmen und
den möglichen Folgen für psychisch kranke Menschen. Vor kurzem brachte
er erstmals Ärzte, Therapeuten und Betroffene zum Austausch über das
Thema an einen Tisch. "Die gesamte Behandlung kann ungünstiger verlaufen,
weil kein Vertrauen zu den Ärzten entsteht", sagt er. Manche der zutiefst
aufgewühlten Patienten entwickelten auf Grund der Behandlung sogar zusätzliche
Symptome. Die Fachleute sprechen dann von einer "sekundären Traumatisierung".
Die Psychiatrie beschäftigt sich erst allmählich mit diesem Thema.
"Die psychiatrische Gewalt scheint von den Profis massiv verdrängt
oder verleugnet zu werden, weil sie in krassem Widerspruch zum Selbstbild helfender
Berufe steht", stellt Volker Pieters aus Weißenborn in Thüringen
in seiner Doktorarbeit "Macht-Zwang-Sinn" fest.
Hier untersucht er, wie schizophrene Menschen in akuten Panikzuständen
darunter leiden, wenn sie auf der Aufnahmestation an Armen und Beinen im Bett
fixiert oder mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Für die Betroffenen
seien dies immer hochgradig belastende Ereignisse. Deshalb spricht sich Andreas
Spengler gerade dann für eine einfühlsame Haltung aus, wenn ein Patient
auf Grund seiner inneren Erregung aggressiv und bedrohlich wirkt: "Wir
müssen zwar klare Grenzen setzen, wenn es nicht anders geht. Wir müssen
dies aber ruhig und besonnen tun."
Besonders die Pflegenden brauchten für ihren äußerst schwierigen
Job mehr Unterstützung wie regelmäßige Beratungen und Deeskalations-Trainings:
"Hier üben sie, wie sie mit aggressiven Patienten gelassener umgehen
können", sagt der Psychiater und Psychotherapeut. Ein Umdenken ist
den Experten zufolge jedoch nicht nur in der Psychiatrie nötig. Auch die
einweisenden Richter, die Feuerwehr und die Polizei müssten sensibler reagieren.
Erste positive Ergebnisse meldet die bayerische Polizei-Fachhochschule. Psychiatrie-Patienten
haben in einem Pilotprojekt mit den Beamten über ihre persönlichen
Erfahrungen geredet. Die Polizisten betonten im Anschluss, jetzt mehr Verständnis
für psychisch Kranke und deren Nöte zu empfinden. Fortbildungen und
Schulungen dieser Art werden zurzeit in ganz Europa diskutiert, sagt Privatdozent
Thomas Kallert vom Dresdner Uni-Klinikum. Er ist Projekt-Koordinator der internationalen
"Eunomia-Studie". Erstmals wird in zwölf Ländern von Litauen
bis Israel untersucht, wie zwangsweise aufgenommene Patienten ihre Behandlung
beurteilen. Die Ergebnisse sollen 2007 auf einem Kongress des Psychiatrischen
Weltverbandes vorgestellt werden.
Experten sind sich einig, dass vor allem das Gespräch mit den Betroffenen
intensiviert werden muss. "Viele Patienten scheuen sich, im Nachhinein
die Ängste bei ihrer Einweisung anzusprechen. Es ist Aufgabe der Ärzte,
dies zu tun", fordert Stefan Gunkel. Nur so könne geschwächtes
Vertrauen wiederhergestellt werden.
Horst B. war erst drei Jahre nach seiner Zwangseinweisung bei einem erneuten
freiwilligen Klinik-Aufenthalt in der Lage, seine panische Angst vor Blaulicht
und Polizisten aufzuarbeiten. In einer intensiven sechsmonatigen Therapie gelang
es ihm, diese Ängste in den Griff zu bekommen, sagt Spengler. Er zitiert
den Schweizer Psychiater Klaus Ernst, der schon lange davor warnt, Zwangsmaßnahmen
später totzuschweigen: "Man sollte nie darauf vertrauen, dass Gras
über die Sache wächst."